Interview-Serie «Nachbrenner» - vom Inkasso-Profi zum Weinbauer
Im heutigen Teil geht es um Marcel «Marcello» Schmidlin. Ich durfte Marcello in der Zeit kennenlernen, als ich eine Finanzierungsabteilung für Industriegüter leitete. Marcello war 35 Jahre bei einer führenden Kreditschutzorganisation Mitglied der Gruppenleitung und Mitglied im Ausschuss des Verbandes. Im Rahmen unserer geschäftlichen Kontakte erzählte Marcello von seiner klaren Vision, mit 55 Jahren den Beruf an den Nagel zu hängen und Weinbauer zu werden. Gesagt, getan. Exakt mit 55 Jahren ist der Traum real geworden. Marcello erwarb 2018 ein Weingut im Piemont, erneuerte seither den Rebberg und baute die Gebäulichkeiten in ein B&B mit Weinkeller um.
Lesen Sie im Interview, wie es dazu kam, welche Hürden zu meistern waren und ob Marcello es nochmals tun würde.
Marcello, wann hattest du dich entschieden, Weinbauer zu werden?
Wein war immer schon Bestandteil meines Lebens; entweder ich half bei einer italienischen Önothek in Basel mit beim Import in Verona oder bei einem bekannten Gastronomen in Basel, da man mir eine gute Nase nachsagte. Ich war in meinem Leben aber auch viel gereist und habe einiges von der Welt gesehen und meine Sprachkenntnisse, speziell im Italienisch verfeinert. Diese Wanderjahre haben mich inspiriert. An meinem 40. Geburtstag hatte ich ausgesprochen, was ich schon immer im Kopf hatte: Ich möchte ein Weingut in Italien besitzen.
Was braucht es, dass eine Vision auch real wird?
Viele haben einen Traum, der aber oftmals unerfüllt bleibt. Auf einmal ist man 65 Jahre alt, pensioniert und bemerkt, dass man es nicht realisiert hat. Zahlreiche Manager sind ab diesem Zeitpunkt plötzlich niemand mehr. Diese Gedanken treiben einen an. Ich habe mir mit 40 Jahren gesagt, dass ich mit 55 Jahren ein Weingut in Sardinien (es wurde dann aus familiären Gründen Piemont) besitzen werde. Der Entscheid im Kopf war gefällt und ich liess mich nicht davon abbringen.
Trotzdem bleibt es häufig bei einem Traum.
Ich hatte mich bereits über 15 Jahre mit der Idee befasst und mein Netzwerk gepflegt. Es ist vergleichbar mit einem Marathon. Man muss zielstrebig sein und sich nicht vom Weg abbringen lassen. Als klar war, zu welchem Zeitpunkt ich «frei» sein werde, begann die akribische Planung. Vorteil war, dass ich bereits klare Bilder im Kopf hatte.
Erzähle doch etwas zur konkreten Umsetzung
Ich ging sehr zielbewusst vor und reiste 5- bis 6-mal ins Piemont. Von ursprünglich dreissig grob ausgewählten Weingütern habe ich mir zwanzig angeschaut, fünf davon zusammen mit meiner Frau und Freunden.
Und dann kam die harte Landung vom Traum ins reale Leben?
Wenn man die veralteten Gebäude und den vernachlässigten Rebberg betrachtet, schon. Ich hatte aber klare Bilder vor mir: Erstens der zu einer «Cantina» umgebaute historische Weinkeller. Zweitens den Blick von der Terrasse auf die Alpen und Drittens die zwei Hektaren Land. Sie entsprachen exakt der Grösse, die ich mir vorgestellt hatte. Weil schlussendlich auch der Preis stimmte und mir das Projekt machbar erschien, habe ich zugeschlagen. Was ich aber auch lernen durfte: Vom Netzwerk bleibt 20-30%. Weiter habe ich 70-80% meiner Bekannten verloren. Die sind im Daily Business blockiert und es ist okay so. Daran darf man nicht scheitern.
Was gibst du Menschen mit ähnlichen Gedanken mit auf den Weg?
Stets vorwärtsblicken und den Traum nie aus den Augen verlieren. Die Idee im Freundeskreis zur Sprache bringen, mit Bekannten austauschen. Das gibt Sicherheit und es kommen viele Anregungen zusammen. Während der Umsetzung dann das Positive sehen, nicht die Hindernisse. Sich nicht von der Realität abschrecken lassen. Nie den Boden unter den Füssen verlieren. Vorsichtig bleiben und auch einmal verzichten können. Der finanzielle Aspekt ist schon wichtig. Ich habe beispielsweise ein etwas anderes Crowdfunding organisiert. Die Investoren werden mit eigenem Wein bedient.
Heute kann ich sagen, dass bisher alles funktioniert hat. Ich sehe Licht am Ende des Tunnels. Das ist meine Triebfeder. Wenn ich auf der Terrasse oder im Weinkeller sitze, überkommt mich eine innere Ruhe und Stolz. Und zum Schluss vielleicht noch ein Tipp: Bereue nie etwas, was die Vergangenheit betrifft.
Interview entstand während meines Besuchs im Piemont Ende Mai 2021
Weitere Infos: https://vin-cello.com/
Stephan Roth, Nachfolgepool